M. Rothen: Die Elementarschullehrer am Ende des Ancien Régimes

Cover
Titel
Die Elementarschullehrer am Ende des Ancien Régimes. Eine Kollektivbiografie der Schweizer Lehrerschaft im Spiegel der Stapfer-Enquête von 1799


Autor(en)
Rothen, Marcel
Reihe
Studien zur Stapfer-Schulenquête
Erschienen
Bad Heilbrunn 2021: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
379 S.
von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Das Berner Nationalfondsforschungsprojekt zur Stapfer-Schulenquête, durchgeführt von 2009 bis 2015, ist in jüngster Zeit eines der produktivsten Beispiele dafür, dass vorrangig die Erschliessung und Auswertung bisher vernachlässigter historischer Quellen neue Erkenntnisse zur sozialen und gesellschaftlichen Realität in der Helvetik und der Frühen Neuzeit insgesamt ermöglichen, ja sich mancher hartnäckig von Generation zu Generation weitergegebener Mythos entzaubern lässt. Die vorliegende Dissertation zeigt, dass die bekannte Figur des gedrückten, sozial am unteren Ende der gesellschaftlichen Rangordnung stehende Schulmeister im niederen Schulwesen um 1800 vielleicht manchmal Realität gewesen sein mag, aber nach den Forschungsergebnissen Marcel Rothens künftig vor allem als literarische Fiktion zu gelten hat, wie sie uns absichtsvoll und beispielhaft etwa in Zschokkes Goldmacherdorf oder in Gotthelfs Bauernspiegel nahegebracht wurde, entworfen von Autoren, die es gut meinten mit den ‹Volksschulen› und bei ihren Lesern für deren Verbesserung werben wollten.

Die hier ausgewertete, aussergewöhnliche Quelle verdankt sich einer Umfrage zur Schulsituation in der Helvetischen Republik aus dem Jahr 1799, die auf Initiative des Erziehungsministers der Helvetischen Republik Philipp Albert Stapfer (1766–1840) entstand. Der Minister wollte seine Schulpolitik in der mit der Helvetischen Revolution von 1798 ausgerufenen Republik auf genauere Kenntnis der Realitäten bauen und entwarf deswegen einen standardisierten Fragebogen mit rund 60 Fragen, die von den Lehrern und den wenigen Lehrerinnen – ausdrücklich nicht von den Geistlichen – der damaligen Schweiz zu beantworten waren. Die Umfrage bietet vielfältige Einblicke in die Realität des Schulwesens, das in den schweizerischen Landgebieten oftmals leistungsfähiger war, als überlieferte Klischees es vermuten lassen. Die Umfrage dokumentiert zwar auch Lehrerelend, zeigt aber doch eine Schule auf dem Lande, die in der Regel immerhin das Lesen und Schreiben vermittelte. Zu den wohl erstaunlichsten Einblicken, welche die Enquête bietet, gehört die Tatsache, dass viele Lehrer mit der Helvetik grosse Hoffnung verbanden und weit aufgeklärter dachten und argumentierten, als bei ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Lage zu vermuten wäre.

Marcel Rothen kommt auf der Basis von 2’300 Lehrkräften, unter denen sich 66 namentlich genannte Lehrerinnen und ein Dutzend namentlich nicht genannte «Gehülfinnen» befinden, zu dem Ergebnis, dass beim Stand der Schulmeister im Elementarschulwesen keinesfalls von kollektiver Armut und sozialer Verachtung gesprochen werden kann, sondern es sich bei ihnen im Gegenteil meist um hoch geachtete und fachkompetente Spezialisten mit lebenslanger Amtsausübung handelte. Tatsächlich stammten die Lehrer entgegen dem proklamierten Armutsparadigma keineswegs aus den untersten sozialen Schichten, sondern eher aus einem kleinbäuerlich-handwerklichen Milieu der lokalen «Mittelschichten». Auch mangelte es nicht an Kandidaten für dieses Amt, das Rothen als «attraktive kommunale Ressource» bezeichnet. Die Wahl des Lehrerberufs habe auch kein opportunistisches Ausweichverhalten dargestellt, sondern die Mehrzahl der Lehrer habe sich unter bewusstem Verzicht auf frühere Tätigkeiten bereits als Jugendliche oder junge Erwachsene für das Lehramt entschieden, das von ihnen dann auch lang-
fristig ausgeübt wurde, vielfach verbunden mit Kirchenhilfsdiensten. Als Mythos erweist sich, was selbst für Preussen nicht zutrifft, dass nämlich viele Schulmeister frühere Soldaten gewesen seien. Der Autor spricht zusammenfassend bereits für die Zeit um 1800 von einer beginnenden Professionalisierung des Lehrerberufs. Aus regionalen Quellenbeständen wird eine im Gegensatz zu Einzelberichten und Klagen über fachliche Unfähigkeit stehende hohe Zufriedenheit mit den Leistungen der Lehrer nachgewiesen, zu deren grösstem Verdienst zweifellos gehört, dass die Schweiz um 1800 eine weitgehend flächendeckende Alphabetisierung aufwies und damit nicht nur politisch einen beträchtlichen Vorsprung vor diversen deutschen Ländern hatte.

Lesenswert in dieser tüchtigen Studie sind die wörtlich zitierten Äusserungen von Lehrern, die bemerkenswert reflektierte Einsichten angesichts der eigenen beruflichen Tätigkeit und deren Wert für die Gesellschaft und deren Weiterentwicklung verraten. Sie stellen somit eine Quelle dar, mit deren Hilfe über die statistischen Daten hinaus hermeneutische Einsichten möglich werden. Es erscheint dem Rezensenten als der einzige kleine Mangel an der Arbeit, dass Überlegungen zum Weltbild der Schulmeister oder zur Wirkung der Aufklärung etwas zu kurz kommen. Da die neue helvetische Regierung, soviel wird aber deutlich, auf keinem anderen Feld so aktiv agierte wie auf dem des niederen Schulwesens, um so dem Ideal aufgeklärter und gebildeter Staatsbürger näher zu kommen, fand die neue Ordnung Sympathie bei manchem derjenigen Lehrer, denen die Aufgabe zugedacht war, einer «ächt religiösen, sittlichen und bürgerlichen Aufklärung» zum Durchbruch zu verhelfen. Der helvetische Grosse Rat proklamierte in einem seiner ersten Beschlüsse bereits im Mai 1798, der Schulmeister sei «in diesen unsern Tagen einer der wichtigsten Männer». Zugleich dokumentieren die Lehrerantworten die grossen Schwierigkeiten, die sich dem anfänglichen engagierten Reformwillen während der Helvetik angesichts mangelnder finanzieller Ausstattung und kriegerischer Auseinandersetzungen in den Weg stellten. Bemerkenswert, dass mit den helvetischen Erziehungsräten erstmals und dauerhaft in der Schweiz die Forderung nach der politischen und nicht mehr kirchlichen Oberaufsicht über das Schulwesen praktiziert und die traditionelle Abhängigkeit des Schulmeisters vom Pfarrer zumindest perspektivisch aufgehoben wurde. Viele andere zukunftsweisende Ideen helvetischer Politiker, unter ihnen herausragend Stapfer, fanden ihre Realisierung erst in den folgenden Jahrhunderten.

Zitierweise:
Böning, Holger: Rezension zu: Rothen, Marcel: Die Elementarschullehrer am Ende des Ancien Régimes. Eine Kollektivbiografie der Schweizer Lehrerschaft im Spiegel der Stapfer-Enquête von 1799, Bad Heilbrunn 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 300-301. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit